TRAUM­GE­SCHICHTE

(vorläufig letzte Über­arbeitung Januar 2011)


1962 von 1945 geträumt


auf­ge­schrieben 2008 /2011 für Michelle M. Bonnarens


bei Ulla Seidel


Diesen Frühsommer--2000--traf ich beim Besuch meiner letzten Arbeitsstelle, der INSEL-Galerie in Berlin Mitte, außer früheren Kolleginnen und Kollegen eine große junge dunkelhaarige Frau, die mir bekannt vorkam. Die fasste mich auch intensiver ins Auge, als man üblicher Weise fremde Leute ansieht. Wir mussten uns schon begegnet sein. Es fiel uns b e i d e n jedoch nicht ein, wo. Sogar die Namen kamen uns bekannt vor, aber alles Grübeln half nichts...


Sie stellte sich vor: Michelle M. Bonnarens, Journalistin im Auftrag der DEUTSCHEN WELLE. Sie wollte ein lnterview mit der Galerie-Chefin machen.


Zwei, drei Wochen später schaute ich wieder in der Galerie vorbei. Michelle war auch wieder da. Sie freute sich, hatte schon nach mir gefragt. Sie hatte mich nämlich in ihrem Computer gefunden:


1993 arbeitete sie abends als Dozentin an der Volkshochschule in der Prenzlauer Allee-- und mich steckte man damals in ihren Englisch-Konversations-Kurs, nach dem der schon drei Wochen lief. Aber nicht deswegen, sondern wegen eines Traums von mir hatte sie sich eine Tagebuch-Notiz gemacht.


Das war nämlich eine der ersten Aufgaben, die sie sich für ihren Kurs ausgedacht hatte: in Englisch einen Traum zu erzählen. Mein Traum, den ich irgendwie zusammen radebrechte mit meinen lächerlichen Englisch-Kenntnissen, hatte für Michelle damals eine besondere Bedeutung gehabt. Das verriet sie mir aber erst jetzt.


Sie bat mich auch erst jetzt, den Traum für sie aufzuschreiben.


Ich weiß nicht recht, wie ich anfangen soll und beginne wieder mit diesem Kurs:


So, in den ENGLISCH-Konversations-Kurs von Frau Bonnarens!


In dem für die mit minimalen Grundkenntnissen wollten sie mich nicht behalten, weil ich-- obwohl mit fast 50 die Älteste--oft rascher als die andern in Englisch auf Fragen zu reagieren fertig brachte, wenn auch mit hanebüchenem Satzbau. Das kam davon, dass es mir schon lange egal war, ob ich mich "blamierte" oder nicht. Aber den jungen Leuten gefiel es nicht. Nun hatte ich den Salat:


für Anfänger konnte ich offenbar zu viel und im Konversationskurs störte ich ständig die andern Teilnehmer, weil ich nicht mitbekam, worum es gerade ging...


Michelle hatte also die ldee, ihre Schüler einen Traum erzählen zu lassen.


Naja, ich träumte in diesen ersten Nachwendejahren viel--im Schlaf und auch im Wachen. Davon wollte ich nicht gerade erzähen, nicht nur wegen sprachlichen Unvermögens. Ich drängelte also nicht, zuerst zu dran zu kommen. Während die andern-- für mich sowieso kaum verständlich-- erzählten, fiel mir der merkwürdige Traum ein, den ich als ganz junge Frau mehr als einmal geträumt hatte--in einer andern für mich heftigen Umbruchszeit--als ich von meinem Dorf in die grose Stadt kam-- damals nur ein Drittel der ganzen Stadt, unsere DDR-Hauptstadt.


Ziemlich oft sogar träumte ich damals--1962--das Gleiche.


Das hörte erst auf, als ich es meiner Mutter erzählte-- und sie es mir deutete. Ich versuchte es also:


When I was young-- a-and--I came to Berlin-- it was a littl village, where I-- herkomme, come from. Also, in this time I had a dream. The same dream often... Also, ich war noch ganz klein-- a baby--und es war Nacht-- night.


Und es war sehr laut. Es dröhnte, krachte und knallte und umher rennende Leute kreischten. Der Himmel war schwarz, aber auch strahlend rot und gelb und er leuchtete. Helle Licht-Regen fielen von oben nach unten und ganz große Feuerschwaden stoben von unten nach oben. Erst weinte ich in dem Traum, weil die Mutter mich weckte, aber es wurde immer doller und ich kreischte begeistert mit.


Die Mutter hatte mich hastig fest und warm eingepackt und in den Handwagen gestopft. Dann rannte sie mit mir durch diese leuchtende Nacht. Die Räder neben mir machten auch Krach, sie knirschten wie verrückt, weil alles gefroren war. Vor dem Mund stand dampfend der Atem. Die Tränchen, die mir anfangs aus den Augen liefen, glitzerten als Reif auf dem Kissen.


Viele Leute rannten mit Wagen voll Sachen oder Kindern-- vor, hinter und neben uns. In einem der Handwagen greinte auch unsere alte kranke Tante Anna aus dem Nachbarhaus.


Erst ging es knirschend unsern Weg den Berg hinan--vom Dorfweg--und dann nach links an der Weide des Ebert-Bauern vorbei zum Wald, der wie eine schwarze Wand da stand. Es war der Steinigter-Wald, in dem die Leute wie verschluckt verschwanden, der Wald mit der großen Buche am Rand, wo ich Jahre später beim Himbeeren sammein eine wimmelnde Kreuzotternbrut zwischen den Wurzeln sah und Opa mich grob packte und weg zerrte.


Alle, alle krakeelten in jener Nacht, schrien und kreischten. Es war toll. Ich lachte und kreischte mit. Mir gefiel es, schnell und mit Krakeel durch die Nacht gezerrt zu werden. Mich begeisterte der leuchtende Himmel und der Krach. So ging das, bis wir im schwarzen Wald drin waren. Da muss ich wohl wieder eingeschlafen sein. The dream was out. Zu Ende.


Das träumte ich 1962, als ich zum Studieren nach Berlin kam. Zweimal die Woche wenigstens. Dann wieder nicht, dann noch mal. In den Herbstferien erzählte ich es meiner Mutter, beschrieb ihr sogar die gelb und hellgrün karierte Baby-Decke, in die sie mich gewickelt hatte.


Rote Flecke erschienen während dieser Erzahlung auf den Wangen und am Hals meiner Mutter. Anfangs ganz zittrig erklãrte sie mir meinen Traum. Sie kannte ihn genau-- nur dass es bei ihr kein Traum war, sondern lange verbannte und Trotz dem unauslöschbare grauenhafte Erinnerung:


Das war die Nacht des großen Bombardements auf die vogtländischen Stadt Plauen gewesen-- von unserem Dorf 11 Kilometer entfernt. Im frostkalten Februar 1945, als man schon auf das Ende des Krieges wartete, hoffte, erlebten wir diese Nacht, von der ich 17 Jahre später träumte.


Plauen war in der DDR der nach Dresden und Halberstadt am meisten zerbombte Ort--wegen der VOMAG-Werke, die statt normaler Lasftwagen im Krieg und auch schon davor für den Krieg passende große Transporter herstellten.


Die Werke lagen drei Kilometer außerhalb der Stadt.


Sie waren nicht getroffen. Ihre gesamte technische Ausrüstung wurde erst nach dem Krieg abgebaut und in die Sowjetunion gebracht, wie ich als Kind hörte. Bombardiert wurde die Mittelstadt vom Bahnhof bis zu den großen Geschäften und von der Südvorstadt bis zum Krankenhaus, die alten Gässchen mit dem Kloster aus der Zeit der Komturn, die vom 11. Jahrhundert an aus Franken herüber in die vogtlandischen Wälder gekommen waren--wie die prächtigen Bürgerhäuser aus der Gründerzeit, als alle Welt plötzlich Plauener Spitzen tragen wollte.


Wenn die Mutter mit mir als Kind in die Stadt fuhr, stiegen wir am Bahnhof zwischen Trümmern aus dem Bus, eilten durch Trümmer-Felder, bis wir an die paar neu aufgemachten Läden heran kamen.


Als ich der Mutter meinen Traum erzählte, war sie fassungslos darüber, dass darin genaustens alle Stationen der Schreckensnacht vorkamen, auch in der richtigen Reihenfolge--aber dass für mich das Getöse, die großen Brände, das Rennen und Schreien eine Art Begeisterung auslösten-- wahrscheinlich sogar den Grund legten für meine Vorliebe, ins Feuer zu starren-- ins Herdfeuer, auf dem sie bis in die 5Oiger Jahre noch kochte, ins große Feuer, in dem alljährlich auf dem Galgenberg zur Walpurgis-Nacht "die Hex verbrennt" wurde--die "Winter-Hex" meinte die Mutter auf Fragen, was das denn für eine Hex gewesen sei--oder in brennende Gehöfte, wenn der Blitz eingeschlagen hatte.


Für meine Mutter war das die Nacht, während der sie nicht glaubte, dass sie mit ihrem kleinen Kind den Morgen erleben würde.


Wenn sie heute noch lebte, würde ich sie gern fragen, wie sie in all ihrer Angst dabei das Vertrauen in mich legte, dass diese Nacht kein Trauma in mir hinterließ, sondern dass ich-- immerhin bereits genau zwei Jahre alt-- sie anscheinend als eine tolle Gaudi erlebte.


Michelle habe ich schon gefragt, warum sie ausgerechnet meinen Traum in ihrem Computer gespeichert hat. Sie verriet, dass sie eigentlich eine Künstlerin ist, eine Malerin.


Manchmal muss sie Szenen und Dinge malen, die sich erst auf dem Bild während des Malens entwickeln, die aus ihr heraus wollen, ohne dass sie versteht, was sie bedeuten.


So war das auch damals, 1993, als sie diesen Konversations-Kurs in der Prenzlauer Berger Volkshochschule gab. Da malte sie einige Bilder, die sie selbst erschreckten und verwirrten.


Sie zeigte mir inzwischen Kopien davon: sie malte damals Bilder von dunklen Wäldern, in denen Frauen mit Kinderwägen umher irrten. Und dann erzählte ich diesen Traum...



back to the art